Dresden und das „Unternehmen „Barbarossa“
Erinnern – Gedenken – Gestalten
„Man war auf der Gemeinde in gehobener Stimmung: Die Nachrichten von der Front sind wahrhaft katastrophal […]. In Stalingrad geht eine ganze Armee, die sechste, mit rumänischen und kroatischen Armeen eingestandenermaßen verloren…“.
Victor Klemperer, Tagebuch, 27. Januar 1943
„Deutschland wird einmal ein Stalingrad im Quadrat sein“.
General Walther von Seydlitz, nach der Schlacht
Über „Elbflorenz“ thront die „Albertstadt“, die ab 1877 zur größten Kasernenstadt Deutschlands heranwuchs; sie war Sitz großer Teile der Sächsischen Armee, später der Reichswehr und Wehrmacht.
Wer sich heute dort ins Auto setzt und 2.755,61 Kilometer ostwärts fährt, erreicht nach etwa 34 Stunden eine russische Millionenstadt, deren alten Namen Zarizyn (russ. Царицын) nur noch Wenige kennen. Seit 1961 heißt sie Wolgograd (Stadt an der Wolga, russ. Волгоград). Weltberühmt wurde sie jedoch als „Stalingrad“ und erzählt damit eine Geschichte, die fest in der deutschen, sowjetischen und russischen Erinnerungskultur verankert ist und weltweit einen berühmt-berüchtigten Klang besitzt.
Im Umfeld des 80. Jahrestags des Angriffs der NS-Wehrmacht auf die Sowjetunion (22. Juni 1941) – womit der „totale Krieg“ und die so genannte „Endlösung“ ihren verheerenden Lauf nahmen – fanden vier Informations- und Diskussionsveranstaltungen unseres Vereins statt, die der differenzierten Betrachtung des Krieges gegen die Sowjetunion sowie der entsprechenden Erinnerungskultur nach 1945 dienten.
Das Unternehmen Barbarossa und der Wehrmachtsstandort Dresden
Vortrag
16. Juni 2021 Gedenkstätte Bautzner Straße Dresden
Am 22. Juni 1941 fiel die deutsche Wehrmacht trotz Nichtangriffs- und Freundschaftspakt zwischen den Diktatoren Hitler und Stalin in der Sowjetunion ein. Auf das so genannte „Unternehmen Barbarossa“ folgte ein Vernichtungskrieg des nationalsozialistischen Deutschlands gegen die UdSSR als konsequente Fortsetzung von Hitlers rasseideologischem Programm, „Lebensraum im Osten“ zu erobern. Von Anfang an wurde der „Ostfeldzug“ unter Bruch der Standards des internationalen Kriegsvölkerrechtes durchgeführt.
Sowjetische Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter standen in der Hierarchie des NS-Lagersystems auf der untersten Stufe und kamen häufig unter furchtbaren Umständen zu Tode. Zahlreiche Kriegsgräberstätten, auch in Dresden und der näheren Umgebung, zeugen noch heute davon. Nach der Einführung unseres Vereinsvorsitzenden Holger Hase skizzierte Jens Wehner in seinem Vortrag die Rolle Dresdens als Garnisonsstadt.
„…und werde Dich immer lieben! Dein Stjopa“
Gedenkveranstaltung mit szenischer Lesung
22. Juni 2021 Sowjetischer Garnisonfriedhof
Die intime, ganz persönliche Erinnerung an das Kriegserlebnis beleuchtete eine szenische Lesung sowjetischer Feldpostbriefe unter dem Titel „…und werde Dich immer lieben! Dein Stjopa“. Das sogenannte „Unternehmen Barbarossa“ war verbunden mit völkerrechtswidrigen Befehlen wie dem „Kommissarerlass“, der Einrichtung von „Hungerzonen“ für die Zivilbevölkerung der Sowjetunion und einer rücksichtslosen Partisanenbekämpfung. Nur unter großen personellen und materiellen Opfern gelang es der UdSSR, den Gegner 1945 endgültig niederzuwerfen.
An dieses dunkelste Kapitel des deutsch-russischen Geschichte erinnerten wir mit unserer Gedenkveranstaltung. Dazu wurden Passagen aus erst 2017 aufgefundenen und veröffentlichten Feldpostbriefen des Soldaten Stepan Dmitrijewitsch Lesjukow (1912-1944) an Ljudmila Fjodorowna Mjasnikowa (1925-2017) durch Markward Herbert Fischer vom Literaturtheater Dresden vorgetragen. Der Dresdner Chor „Slavica“ unter Leitung von Yewgeni Pankow umrahmte die Lesung musikalisch. Kulturbürgermeisterin Annekatrin Klepsch vertrat die Landeshauptstadt Dresden mit einem Grußwort.
Begleitend zur Veranstaltung entstand ein bebildertes Hörspiel.
Geschichtskulturelle Turbulenzen? Aspekte des Erinnerns an den Zweiten Weltkrieg in Deutschland und den Nachfolgestaaten der Sowjetunion
Podiumsdiskussion
24. Juni 2021 Gedenkstätte Bautzner Straße Dresden
Zum 80. Jahrestag des „Unternehmens Barbarossa“ stand die Frage im Raum, wie sich die Stadtgesellschaft Dresdens gegenüber diesem dunkelsten Kapitel der deutsch-russischen Beziehungen positioniert. Zudem wurde darüber debattieren, welche Rolle das Geschehen von damals in den heutigen Erinnerungskulturen Russlands und Weißrusslands spielt.
Ausgehend vom erinnerungskulturellen Konsens, dass der Zweite Weltkrieg ein von Deutschland entfesselter Angriff- und Vernichtungskrieg war, bedarf es immer wieder der Anstrengung, die historischen Ereignisse von damals zu bewerten und zur heutigen gesellschaftlichen Situation in Beziehung zu setzen. 2020 meinte ein Historiker, wir lebten nicht mehr im „Kalten Krieg“, sondern in einem „Kalten Frieden“ mit Russland. So bot die Rückschau auf den Juni 1941 die Möglichkeit, das gegenwärtige deutsch-russische Verhältnis zu reflektieren.
Das vergessene Verbrechen
Kommentierte Filmvorführung
29. Juni 2021 Technische Sammlungen Dresden
Der Dokumentarfilm „Das vergessene Verbrechen“ von Andreas Christoph Schmidt (Grimme-Preis 2017) schildert das Schicksal sowjetischer Kriegsgefangener in deutschen Lagern ab 1941. Der Überfall auf die Sowjetunion, der rasche Vorstoß, das Steckenbleiben im frühen russischen Winter, die Schlacht vor Moskau, Stalingrad, der Fall Berlins – diese Phasen des Zweiten Weltkriegs sind allgemein bekannt.
Dahinter verborgen ist eine weitere Untat, von der nur selten gesprochen wird und die Vielen unbekannt ist: Der Tod von drei Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen – durch physische Gewalt, Aushungerung und Krankheit. Die Täter selbst haben ihr Tun dokumentiert. Die Frage, ob ihr Schicksal ein Verhängnis war oder der Beginn einer planvollen Vernichtung, stellte sich den Kriegsgefangenen nicht, sie wussten jedoch, dass es kein Zurück gab. In der Heimat galten sie nunmehr als Feiglinge, Deserteure und Verräter.
Unter der Moderation von Jens Nagel (Leiter der Gedenkstätte Ehrenhain Zeithain) führte der Regisseur Andreas Christoph Schmidt in den Film ein und beantwortete zahlreiche Publikumsfragen.
Mit diesen Veranstaltungen, die unser Verein in Kooperation mit weiteren Partnern durchführte, wurde eine Katastrophe in das kulturelle Gedächtnis unserer Gesellschaft zurückgerufen – ein Geschehen, das sich über Jahre an der deutschen Front „im Osten“ ereignet und immense Opfer gefordert hat. Bis zur Kapitulation Japans, gegen das Stalin in den letzten Kriegswochen noch offensiv geworden war, hatte die Rote Armee 6,2 Millionen Gefallene zu beklagen, mehr als 15 Millionen Verwundete, 4,4 Millionen Gefangene oder Vermisste und drei bis vier Millionen Ausfälle wegen Krankheit oder Erfrierungen. Das bedeutet, dass von den 34,5 Millionen mobilisierten Männern und Frauen 84 Prozent getötet, verwundet oder gefangen genommen wurden. Hinzu kommen rund 17 Millionen zivile Opfer.
Das sind unvorstellbare Opferzahlen, hinter denen allerdings das reale Leid deutscher Wehrmachtsangehöriger und deren Verbündeter nicht verschwinden sollte. Es bleibt eine wesentliche Aufgabe der deutschen Erinnerungskultur, an das „Zeitalter der Extreme“, das Wissen um die eigenen Taten mit dem Gedenken an die Toten der eigenen Nation, von allem aber der „von Deutschen“ Verfolgten und Getöteten, im Sinne einer europäischen Friedenskultur zu vermitteln. Diesem Gedanken von Frieden und Versöhnung waren auch die Veranstaltungen im Juni 2021 verpflichtet.
Historischer Hintergrund
In Deutschland steht „Stalingrad“ für den „Untergang“ der 6. Armee der NS-Wehrmacht, die seit Heinrich Gerlachs Roman die „Verratene Armee“ (1957) hieß. Dort werden Kampf, Leid und Untergang deutscher Soldaten an der „Ostfront“ erzählt. Bücher wie „Soweit die Füße tragen“ (1955), die Trilogien „Hunde, wollt ihr ewig leben“ und „08/15“ waren in der alten Bundesrepublik Deutschland Millionenbeststeller, kamen ins Kino und als „Straßenfeger“ ins Fernsehen.
Sie entfalten in epischer Breite und voller Dramatik den Mythos der „sauber gebliebenen“, „heldenhaft“ kämpfenden Wehrmacht, das Elend deutscher Kriegsgefangener (das es wirklich gab) und gehören damit zum kollektiven Opfernarrativ der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft. Leid, Tod und Entbehrungen der Roten Armee, vor allem aber der russischen und jüdischen Zivilisten, kommen eher am Rande vor; die Rolle der 6. Armee im Völkermord des Ostens und dem „Holocaust auf freiem Feld“ waren kein Thema.
Die Sowjetunion feierte Stalingrad als triumphalen Sieg und als „Wende“ des Zweiten Weltkriegs, bombastisch-monumentaler Ausdruck dieser Großerzählung ist das mit ca. 82 Metern weltgrößte figürliche Denkmal auf dem „Mamajew-Hügel“ nahe Wolgograd – die Kolossalstatue „Mutter Heimat ruft“. Aus allen Rotarmisten, den Toten wie den Lebenden, wurden pauschal Helden, die für den Sieg des Sozialismus über „Kapitalismus“ und „Faschismus“ standen.
Das Leid aller sowjetischer Soldaten im täglichen Dienst, deren Sterben an der Front und in der deutschen Gefangenschaft blieben hingegen weitgehend Teil der persönlichen Erinnerung von Kriegsteilnehmern und deren Familien.
Dass zu den ca. 500.000 Gefallenen der Roten Armee in Stalingrad auch über 13.000 als „Deserteure“ hingerichtete Soldaten gehörten, wurde verschwiegen. Ebenso war die nach Kriegsende einsetzende Abwertung, Verfolgung, Lagerhaft und Hinrichtung von Soldaten, die in deutsche Gefangenschaft geraten waren, als „Feiglinge“ und „Überläufer“ kein Teil der offiziellen sowjetischen Erinnerungskultur an den „Großen Vaterländischen Krieg“ von 1941 bis 1945.
In die Siegesmär des „Großen Krieges“ schrieb sich die SBZ/DDR nach 1945 einfach ein, gehörte sie doch mit zu den „Siegern der Geschichte“ und war glorreicher Teil der „Waffenbrüderschaft“ von Roter Armee und Nationaler Volksarmee. Die raue Wirklichkeit im Dienst beider Streitkräfte und die Brutalität des Kriegsgeschehens nach 1941 verschwand im mythischen Nebel dieser offiziellen Erinnerungen ebenso wie die Tatsache, dass auch in der ostdeutschen Armee – und nicht allein in der westdeutschen Bundeswehr – ehemalige NS-Offiziere Dienst taten.
Der einstige Oberkommandierende der 6. Armee, Generalfeldmarschall Friedrich Paulus, wohnte nach seiner zehnjährigen Gefangenschaft ab 1953 in einer Dresden-Oberloschwitzer Villa, wo er 1957 auch starb. Er war die Vorzeigefigur des Wandels hoher deutscher Offiziere vom Nationalsozialisten zum Anhänger des Sozialismus und unterrichtete einige Jahre in der Dresdner „Hochschule der Kasernierten Volkspolizei“, letztere die Keimzelle der Nationalen Volksarmee (NVA). Aus dieser Hochschule wurde 1959 die „Militärakademie Friedrich Engels“ als höchste Ausbildungsinstitution aller Teilstreitkräfte der NVA und der Grenztruppen, die bis zum Dezember 1990 existierte.
Das Dresdner „Sowjetische Ehrenmal“ für die Rote Armee, das von 1945 bis 1994 inmitten der Stadt am Albertplatz stand, wurde danach an den Olbricht-Platz versetzt. In der Nähe, in Gebäuden der alten Albertstadt, existiert heute die Offizierschule des Heeres, die nach Claus Graf Schenk von Stauffenberg benannt ist. Ebenfalls benachbart ist das Militärhistorische Museum der Bundeswehr, in dem 2013 eine große Ausstellung zum Thema „Stalingrad“ stattgefunden hat.
Das „Rotarmisten-Denkmal“ (so der Volksmund zum „Ehrenmal“) ist alljährlich Schauplatz einer Gedenk- und Erinnerungsfeier an den „Tag des Sieges“ bzw. den „Tag der Befreiung“ (8./9. Mai 1945), zu der sich Friedensbewegte, ehemalige Soldaten und Offiziere der NVA (teils in Uniform), „Freunde“ Russlands und andere „Erinnerungsvirtuosen“ in bunter Mischung einfinden.
Auch auf dem Sowjetischen Garnisonfriedhof an der Dresdner Marienallee wurde und wird immer wieder an die Gefallenen der Roten Armee gedacht, wobei an die im Dienst nach 1945 Umgekommenen, die ebenfalls dort begraben sind, erst nach 1989 offiziell erinnert wird.
Alle Veranstaltungen waren Teil der Reihe „Aus der Albertstadt nach Stalingrad. Dresden und das Unternehmen BARBAROSSA: Erinnern, Gedenken, Gestalten“. Die Reihe wurde durch das Kulturamt der Landeshauptstadt Dresden im Rahmen der kommunalen Kulturförderung auf Grundlage des vom Stadtrat beschlossenen Doppelhaushaltes 2021/22 gefördert.